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  • AutorenbildBildergeschichten - JuMoRa

Die Schere


Ein Nest, in dem eine schlafende Frau liegt


In einem Oval aus verschiedenen Linien, Nähten und Strukturen liegt eine schlafende junge Frau. Mit entspannten Gesichtsausdruck, die Beine an sich gezogen, liegt sie da wie ein Embryo, eingekuschelt in ein imaginäres Nest.


Es ist eines jener Bilder, die während ihrer Entstehung immer wieder hin und her pendeln, zwischen Absicht und Zufall, Plan und Intuition.

Begonnen habe ich mit dem Hintergrund, da war noch vieles dem Zufall überlassen. Nachdem mich die verwobenenen Strukturen an ein Nest erinnert haben, wurde es absichtlicher: Ich habe eine schlafende Person darin platziert.


Ist Geborgenheit hell oder ist sie dunkel?


Ich überlegte mir, was Geborgenheit bedeutet. Die Wahl der Tonwerte (also was male ich hell, was dunkel), brachte eine gewisse Ambivalenz mit sich: Ist Geborgenheit hell?

Einerseits ja, denn Geborgenheit hat viel mit Sicherheit zu tun. Und ein heller, übersichtlicher Ort wirkt nun mal sicherer als ein dunkles Loch, in dem irgendeine Gefahr lauern könnte. Aber da geht es schon los: Wenn man sich vor einer Gefahr verkriechen muss, ist man in dem dunklen Loch vielleicht sicherer, als wenn man sich auf freiem Feld zur Zielscheibe macht. Die Sache ist also gar nicht so einfach.


Schlussendlich habe ich mich entschieden, den Bereich rund um die Frau hell zu machen. Wie Kerzenschein in einer dunklen Höhle. Anders wäre das Bild auch zu düster geworden.


Der rote Faden


Ich nähe ja in alle meine Bilder einen roten Baumwollfaden hinein (was es damit auf sich hat, steht hier), und oft passe ich diesen dem Bildthema an.

Dass ich ihn hier dem imaginären Nest folgen ließ, war also naheliegenend,

verstärkte er doch die Sicherheit. So war die Schlafende von allen Seiten geschützt.

Doch in dem Moment, da ich fertig genäht hatte, kam mir ein beunruhigender Gedanke, und mit ihm kehrte die Ambivalenz zurück: Die Frau war nun geschützt, ja, aber zugleich war sie auch eingesperrt.


Freiheit versus Sicherheit - wie oft begegnet uns dieses Dilemma.


Schon wieder war ich gefordert, einzugreifen: unten links malte ich eine Schere hin, mit der die Schnüre durchschnitten werden können. Doch der Triumph hielt nicht lange an, und der geneigten Leserin, dem geneigten Leser wird es vielleicht schon aufgefallen sein: Die Schere befindet sich AUSSERHALB des Nests.

Das ist das denkbar ungünstigste Szenario: Von außen kann jemand herein, aber sie selber kann nicht hinaus! Was nun?

Natürlich, ich könnte die Schere übermalen und dafür innerhalb des Kreises eine neue platzieren, aber ....


Vier Gründe, warum ich die Schere nicht übermale


Erstens gefällt sie mir, wie da aus dem Dunkeln leuchtet, als ob sie unter Wasser läge. Das macht sie geheimnisvoll, auf hellem Grund wäre das nicht möglich.


Zweitens, wer schläft schon direkt neben einer Schere? Das würde nicht weniger unangenehme Assoziationen wecken.


Drittens darf man die dritte Dimension nicht vergessen. Wir wissen ja nicht, wie hoch das Nest ist. Vielleicht ist es nur kniehoch und die Frau könnte einfach darüber steigen?


Und viertens, und das ist vielleicht der Hauptgrund: Das es so, wie es jetzt ist, in der Schwebe bleibt. Ein Rätsel, das noch nicht gelöst ist.


Wann immer ich dieses Bild anschaue, denke ich darüber nach, wie man dieses Dilemma mit der Schere lösen könnte. Es lässt mich nicht los. Aber vielleicht ist das ja auch ganz gut so, alles andere wäre langweilig.

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